Beiträge von Ulrike Roth - Bernstein im Thema „09. 03. 2008: Gummis 89. Geburtstag - Erinnerungen an meinen Papi“

    09. 03. 2009


    Zum 90. Geburtstag von Wolfgang Roth – Bernstein


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    Auch zu seinem 80. Geburtstag 1999 war mein Vater noch einmal auf seine lieb gewonnenen kanarischen Inseln geflogen, meist Lanzarote. Anschließend trafen wir uns zum Nachfeiern bei mir in Osnabrück. (Bild: auf meinem Bett sitzend, April 1999)


    Wie im vergangenen Jahr möchte ich wiederum eine der Kurzgeschichten meines Vaters aus den „Gedankenwanderungen auf Formentera“ (1990) an dieser Stelle veröffentlichen.


    Einiges in seinem Leben führte dazu, dass er sich von der Kirche und dem christlichen Glauben überhaupt verabschiedet hatte. Dennoch fühlte er sich sein Lebtag lang „geführt“ von einer höheren Macht, die er auch „Gott“ nannte. Er beschäftigte sich auf seine philosophische Art mit den Fragen nach Glauben und Religion.


    Hier seine kleine Geschichte:


    An der Leine


    Auf dem Zufahrtsweg zum Hotel kommt mir eine junge Mutter mit ihrem kleinen Kind entgegen. Mit kräftigen, tollpatschigen Schritten stapft der Winzling munter drauflos. Ich erkenne ein weißes Ledergeschirr an seinem Oberkörper mit einer Leine, einem „Gängelband“, das die Mutter in der Hand hält.

    Als ich mit den beiden auf gleicher Höhe bin, strahlt mich das Kleine glücklich und stolz an und stapft noch kräftiger, so als wollte es sagen: „Gell, da staunst Du, wie gut ich schon laufen kann.“


    Da knattert ein Moped heran. Die Mutter fasst die lockeren Zügel etwas fester. Das Kleine bleibt von sich aus schon stehen.

    Aber der kleinste Stolperer oder oder unachtsame Schritt hätte genügt, dass die Mutter ihr Kind außer Gefahr gebracht hätte. Wirklich, eine segensreiche Einrichtung, solch ein Laufgeschirr. Und trotz des Angebundenseins hat sich das Kind keinen Augenblick lang unfrei gefühlt.


    Anders bei Erwachsenen. Da ist es sehr blamabel, wenn der Eindruck entsteht, ein Mann fände sich am Gängelband seiner Frau. Oder, wenn man von seinem Vorgesetzten andauernd gegängelt wird. Das hat man doch als reifer Mensch nicht mehr nötig! Das braucht man sich doch nicht mehr gefallen lassen. Das verbittet man sich energisch.


    Wenn es allerdings einen „guten Geist“, eine Fee, einen Übermenschen gäbe, der in die Zukunft sehen könnte und der alle Macht besäße, wäre es manchmal ganz gut – und auch akzeptabel – wenn der uns in brenzligen Situationen in sein „Laufgeschirr“ nähme und uns vor falschen Entscheidungen, vor hereinbrechenden Gefahren oder vor bösen Feinden schützen könnte. Das (oder der) könnte uns vor manchem harten Schicksalsschlag bewahren. Solch ein „Sicherheits – gurt“ könnte auch dem stolzesten Erwachsenen gefallen. (In seinem Buch „Asche und Glut“, in welchem er die Geschichten überarbeitet abdruckte, schrieb er auch vom „Schutzengel“).


    Könnte? – Würde? –


    Für viele Menschen bleibt dieser Konjunktiv, diese mehr als fragwürdige Möglichkeitsform, zeitlebens bestehen. Eine Utopie. Ein Märchen. Eine kindliche Phantasie. Oder eine religiöse Spinnerei.

    Kenne ich aus meinem eigenen Erleben.

    Aber ich kenne und erkenne inzwischen auch anderes: Mein gesamter Lebensweg ist ein Beweis dafür, dass ich mich immer in einem „Laufgeschirr“ befunden habe, an einem „Gängelband“, an einer „Longe“ oder in einem „Sicherheitsgurt“. Und in wessen Hand?

    O, wenn doch dieser Ausdruck nicht so strapaziert, abgegriffen und missbraucht wäre! Ich könnte sagen: In Gottes Hand. An seiner – für mich meistens gar nicht spürbaren „langen Leine“ habe ich mich nie unfrei gefühlt, nie gezwungen, nie bevormundet oder entmündigt. Sondern einfach nur sicher und froh.

    So wie das kleine Kind im Laufgeschirr seiner Mutter.


    Am 09. 03. 1919 geboren, würde mein lieber Papi, der Gummi also morgen 89! :geburtstag:


    An seinem letzten Geburtstag hier auf dieser Erde, dem 09. 03. 2002, war er gerade einen Tag lang im Pflegeheim in Soltau, nachdem er im Krankenhaus sich einigermaßen von verschiedensten Alterserscheinungen erholt hatte. Einigermaßen, denn übrig geblieben war ein Häufchen Elend, kraftlos - Aber er versuchte mir und Lothar Thiel (der mit seiner Frau Gudrun ebenfalls zum Gratulieren gekommen war) wortlos zu zeigen, dass er sich freute. Auf seinem Bett im Zweibettzimmer liegend, genoss er den Besuch, die Zuwendung.


    Drei Jahre zuvor noch, zu seinem 80., entschwand er - mit letzter Kraft - wie jedes Jahr in den sonnigen Süden: Formentera. Er liebte alles andere als einen riesigen Aufstand um seinen Geburtstag, lehnte alle Geschenke und Glückwünsche immer ab. Allerdings rief er regelmäßig am 09. auch bei mir und bei meiner Mutter an, damit wir ihm gratulieren konnten. War es, weil er wusste, wie wichtig uns das war, oder war ihm letztendlich das Nicht - Vergessen - Werden selbst wichtig? Es war eine eigenartige Mischung!


    Papi war nie ein Mensch großer Worte. In Gesellschaften benötigte er immer einen geduldigen Gesprächspartner. Aber auf seinen Reisen, seinen einsamen Wanderungen entstanden Gedanken, die er später verschriftlichte und als Buch herausgab.


    Eine dieser Gedankenwanderungen soll hier veröffentlicht werden:


    G e d u l d s s p i e l


    Dem Namen nach heißen sie alle Kioske, Bar oder Restaurante. Der äußeren Art nach sind sie alle Strand - Imbissbuden. Alles äußerst primitiv: Eine Bude, ein Kleinbus, Gartenmöbel und ein paar Bambusmatten als Schattenspender. Wenige Meter entfernt rattert ein Stromaggregat.


    Aber alles relativ sauber, und was Theke und Küche zu bieten haben, ist gut. Und es befindet sich am rechten Ort. Kein Wunder, dass stets reger Besuch herrscht, zumal in der Mittagszeit. - Ich unterbreche also kurz vor 12 Uhr meinen Strandaufenthalt und lasse mich erwartungsvoll in einem grünen Plastiksessel nieder. - Wenig Betrieb heute, stelle ich befriedigt fest in der Hoffnung auf rasche Bedienung. Die wenigen Gäste schlürfen ihre Getränke. Aus der Küche dringt herrlicher Duft von Gebratenem.


    Ich warte. Der Blick schweift über den Dünensand und das offene Meer und begeistert sich an dem blau - gelben Farbenspiel, unterbrochen von den bunten Farbtupfern der entfernt vorbeigehenden Badegäste. - Doch auch an der schönsten Umgebung hat man sich irgendwann einmal sattgesehen. Der Magen wird davon nicht satt. Das Gehirn wird eingeschaltet. Irgendetwas stimmt hier nicht.


    Langsam wird mir klar, warum ich nicht bedient werde. Das Personal sitzt am gemeinsamen Mittagstisch - nun schon seit 30 Minuten. Man hat Pause. Nur einer hat offensichtlich "Notdienst" - an der Getränketheke. - Gut. Ich habe Verständnis und warte weiter. Der Ausblick auf Meer und Strand bleibt der gleiche. Mein Hunger auch. In mein anfängliches Wohlwollen mischt sich - zuerst zögernd, dann immer fordernder - die Frage: Warum können D I E das denn nicht besser organisieren? Wir in Deutschland hätten doch.....


    Erwischt! Also doch ungeduldig? Als ich anfangen will, mich auch noch zu ärgern, beginne ich ein Spiel, das ich schon öfter erfolgreich gespielt habe, am Gepäckschalter, an der Bushalte stelle, an der Landungsbrücke u.a.m. Ich suche nach Antworten auf die Frage: Was würde ich denn mit der gewonnenen Zeit anfangen, wenn ich jetzt sofort "dran" - käme? - Ja, was wohl?


    Hier, im Strandimbiss würde ich eine halbe Stunde früher wieder am Strand faulenzen können. Am Gepäckschalter würde ich meine leichte Umhängetasche schultern und mich auf irgendeine Bank setzen bis zum Aufruf. Der Bus, das Schiff - sofern sie nach meinem Eintreffen sofort abführen - würde entsprechend früher ankommen und ich würde......


    In allen Fällen war das Ergebnis dieses Gedankenspieles dasselbe: Die beim Warten irgendwo eingesparte Zeit würde ich an einer anderen Stelle irgendwie verbummeln. Vielleicht auf bequemere Art, aber nicht effektiver. Es ist doch im Grunde völlig gleichgültig, ob ich am Gartentisch sitzend auf Bedienung warte und dabei über Dünen und Meer schaue, oder ob ich dasselbe am Strand liegend tue. Oder ist es etwa ein gravierender Unterschied, ob ich auf meinem Koffer sitze und Menschen beobachte, oder ob ich dasselbe von einem Sessel im Warteraum aus tue? Oder ist es ein Gewinn für mich, wenn ich, statt auf Bus oder Schiff warten zu müssen, sofort einsteigen darf und dann innen oder später an der Hotelrezeption warten muss? Ich kann die "Spielkarten" dieses Gedankenspieles drehen und wenden wie ich will, ein nennenswerter Gewinn kommt dabei für mich nicht heraus, auch kein theoretischer.


    Ungeduld beim Warten bringt gar nichts. Höchstens Missmut und Ärger. Und die Bringen Verkrampfung, schlechte Laune, verdorbene Urlaubsfreude und - falls ich dabei in den Spiegel schauen würde - ein erschreckend miserables Gesicht. Hingegen: Geduld beim Warten, das berühmte "take it easy" bringt in jedem Fall viel. Nämlich innere Entspannung, interessante Beobachtungen, Vorfreude und eine ganze Menge positiver Gedanken. :lach:


    Übrigens: Das Heilbuttfilet in der Strandbude hat köstlich geschmeckt. Der Dicke am Nachbartisch, der wutschnaubend vorher das Lokal verlassen hat, erregte allgemeine Heiterkeit. Und das durch die Mittagspause ausgeruhte Personal hat die Gäste bis in den Abend freundlich und schnell bedient. - Siesta ist Siesta. Und Geduld zahlt sich am Ende immer aus.




    Aus: Wolfgang Roth - Bernstein: Gedankenwanderung auf Formentera, erster Teil Oktober 1990




    Nach der Schließung der Immenhofschule hatte sich mein Vater unterschiedliche Aufgaben und Ziele gesetzt. Eine dieser Aufgaben war die Recherche der Immenhof - Vergangenheit und das Herstellen der Foto Chronik. Noch vor nicht ganz 20 Jahren war dies mit einem erheblichen Arbeitsaufwand verbunden: Briefe mussten geschrieben werden, auch nach Übersee - Post ging zwischen Deutschland und der USA hin und her.... die Foto Chronik war sein Herzblut. Auf dem alten Paketpapierumschlag steht: "Foto - Sammlung Immenhof Einst und jetzt - 1914 - 1985 - ?" Die Foto - Sammlung endet ca, 1993 / 94.


    Das, was nun auf dieser Site entstanden ist, durch unser aller Zutun, ist eine Weiterführung, dessen, was Gummi begonnen hat. Würde er dies wahrnehmen, würde er sich riesig freuen. In dem Sinne, lasst uns diese Site weiterführen. Der "alte" Immenhof musste sterben, der "virtuelle" nicht unbedingt. Das hängt von uns und unserer Aktivität ab!


    Liebe Grüße, Uli :wiwi: